21.10.05

Fast haett' ich vergessen,...

...dass ich hier neben meiner Selbstfindungs-Entdeckungs-Party-Abenteuer-Rundreise noch eine verantwortungsvolle Taetigkeit als Praktikant in einem deutschen metallverarbeitenden Betrieb ausuebe. Diese Geschichte laeuft unter dem vielsagenden Titel "Einfuehrung der CNC-Technik in der Produktion" Oder "Zen und die Kunst der Geduld"...

Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Daher sieht mein typischer Wochentag, wenn mal zufaellig nicht wieder der groesste Feiertag Indiens, wie folgt aus:
Morgens um viertel vor sieben den Wecker verfluchen, gegen die Wand schmeissen und mich bis um sieben im quietschenden Bett winden, bis ich mir der Vollstaendigkeit aller meiner schmerzenden Glieder vollkommen bewusst bin. Nach dem allmorgendlichen Ringkampf mit dem Schlendrian (seit vielen Jahren mein staendiger Mitbewohner) versuche ich meine verklebten und verschwollenen Augen zu oeffnen und kann durch die schmalen Schlitze, durch die nun das volle Tageslicht meine noch sehr empfindlichen Seh-Rezeptoren reizt ein zerknuelltes Blatt Papier auf dem Boden erkennen. Voellig automatisiert forme ich eine hohle rechte Hand, zucke kurz mit meinem rechten Zeigefinger und versuche mit einer schwungvollen Bewegung meiner Hand nach rechts unten, das Stueck Papier in den Papierkorb zu bewegen. Abgesehen davon, dass sich der Abfall keinen Millimeter bewegt, wundere ich mich, wo ueberhaupt der weisse Pfeil ist, mit dem ich das Objekt markiert habe. Meine Gedanken werden langsam klarer und verlassen allmaehlich den WinXP-Albtraum, der mich jeden Morgen in schweissgetraenkten Bettlaken aufwachen laesst.

Meiner motorischen Faehigkeiten wieder einigermassen maechtig, schleppe ich mich die paar Meter bis in's Bad und bin mal wieder stinksauer, weil wieder jemand diesen verquollenen haesslichen Drecksack von Halunken reingelassen hat, der mich mit seiner krummen Visage ziemlich dummkoepfig aus dem Spiegel anstarrt. Morgen kriegt er auf die Fresse...
Wie gut erzogen, druecke ich anderthalb Zentimeter Zahnpasta auf meine Zahnbuerste (die nicht aelter als 6 Wochen ist) und kratze mit ihren Borsten ein voellig vertrocknetes Abflussrohr frei, das sich mal Rachen genannt hat - 3 Minuten lang.
Die kalte Dusche, die den Nachtschweiss von mir runterwaescht, holt mich schliesslich wieder in die Welt der Menschen zurueck. Beim Abtrocknen, wie beim Zaehneputzen macht keiner Experimente. So wie man sich's als Kind angewoehnt hat, so macht man es sein Leben lang.

Fast ebenso routiniert reisse ich die klemmende Tuer meines Zimmers auf und betrete den Rest der Welt, gehe zum Kuehlschrank, aergere mich, das wieder niemand daran gedacht hat, die Milch schon einen Abend vorher kuehl zu stellen und giesse mir Cornflakes mit Mango-Geschmacksstoffen und hochsterile Nestle-Milch in eine Schuessel. Jetzt aber hurtig, weil die Konsistenz der Mischung Cornflakes und Milch einem instabilen Zustand unterworfen ist und sich mirnichts dirnichts von erfrischend kalt (heute aber nicht!) und knusprig in klebrig und ungeniessbar pampig verwandelt, also schnell in's Wohnzimmer, Glotze auf 'VH1' und Fruehstueck verschlingen. Wie als ob es ein Naturgesetz waere, kommt im Fernsehen zu jeder Tageszeit entweder totaler Mist oder das Gleiche wie jeden Tag (auch Mist). Aber es lenkt so schoen davon ab, morgens ein Gespraech zu fuehren.

Nach einigen Wochen ist mir nicht verborgen geblieben, dass die Kantine in der Firma keine 'Reis-Spezial-Wochen' zelebriert, sondern wohl seit Anfang ihres Bestehens ein Einheitsessen anbietet - im Uni Stuttgart-Jargon auch als 'Renner' bekannt. Diese sued-indische Spezialitaet namens "Thali" besteht im Wesentlichen aus einer Schale trockenem Reis, zwei Bechern beliebiger teufelsscharfer Curry-Suppe und einem Becher dickem Joghurt zur Linderung der Verbrennungen im Rachenraum. Aus diesem Grund nimmt man sich also morgens noch zehn Minuten Zeit, um ein Vesper aus dem Aermel zu zaubern, wo selbst die Mutter neidisch wird: Toastbrot mit Scheibenkaese - vom Regen in die Traufe... Variationen: Toast mit Dosenthunfisch, Toast mit Nutella, Toast..
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Wie schon frueher berichtet klingelt unser Freund Daniel viertel vor acht an der Tuer und berichtet stolz, dass 'the car' nun 'ready' sei, nachdem er es zwanzig Minuten geputzt hat. Weil auf VH1 jeweils fuer einen Monat jeden Tag zur gleichen Zeit dasselbe Video kommt, warten wir ab, bis (im Oktober 2005) dieses weinerliche Coldplay-Video kommt und gehen runter in's Auto, wo ich immer rechts hinten sitze, Stefan links vorne (rechteslenkende Autos in Indien!) und Sven links neben mir. Immer noch keine Lust zu reden, wird die neueste Tageszeitung in drei kollegiale Teile aufgeteilt und die neuesten Informationen aller lebensmueden Inder und ihrem theatralischen Abgang ueber die Styx.

Nach einer dreiviertel Stunde im indischen Berufsverkehr und an der Grenze zum Wahnsinn kommen wir in der Firma an, werden an den Haupteingang vorgefahren und entsteigen in die Welt der Arbeit. Arbeit ist Arbeit, ueberall gleich. Deshalb werden hier acht bis neun Stunden uebersprungen und angenommen, dass wir sicher wieder in unserer inzwischen wieder sauberen Wohnung angekommen sind. Der Abend gestaltet sich gluecklicherweise weniger routiniert, sondern orientiert sich vielmehr an geistiger Zerstreuung. Sitar spielen, Essen gehen, Freunde treffen, wie schon berichtet...

Worauf ich eigentlich hinaus moechte: Heute ist mal was ganz anderes passiert! Hab vor Freude Luftspruenge gemacht! Wochenlange aetzende Planung, mit welchem Werkzeug welche Teile gefertigt werden koennen, wieviel man dafuer braucht, um eine beliebige Produktionsplanung reibungslos ueber die Buehne zu bringen, mit wieviel Ausfall hat man zu rechnen, welcher Anbieter ist der guenstigste, und "Ja, Herr indischer Kollege, wir brauchen genau dieses System" und "Nein, das alte handgeschriebene wird sich nicht weiter bewaehren...", Excel-VBA-Programme zusammenstuempern, Zulieferer zusammenscheissen, neue Liefertermine vereinbaren... Ja, nach all der Zeit abstrakter Kopf(schmerz)-arbeit, steh ich heute vor einem Stahlschrank voller CNC-Werkzeugmaschinen-Werkzeuge incl. saemtlichen Zubehoers; die gestrige Lieferung und die ersten handfesten Fruechte meiner selbstlosen Arbeit. So handfest, dass man einen Hell's Angels-Regionalvorstand damit krankenhausreif pruegeln koennte. Das Kind kommt zur Welt und ist 50 cm lang 3 Kilo schwer und aus hochfestem Hartmetall. Bin so stolz...

In zwei Tagen geht's dann wieder los, 13 Stunden Zugfahrt im 2nd-AC Schlafabteil Richtung Hubli (also Pampa), wo die Maschine, die zu den Werkzeugen passt, nach Angaben des Herstellers in ihren Hallen fertig zur Abnahme steht. Also werden wir Spezialisten die naechste Woche damit verbringen, die Maschine ordentlich auseinanderzunehmen und solange zu vergewaltigen, bis sie uns GENAU die Teile ausspuckt, die auf den technischen Zeichnungen abgebildet sind und, hey supplier, we are German engineers, equipped with German measuring instruments, so don't you dare to fool us, buddy!

Schoenes Wochenende... :-)